7.6.2021

Digital Wondering 13

Die Digital Wonderings sind eine Reihe von Online-Diskursen rund um das kuratorische Thema TRUST. Sie können jede Form annehmen: von einem Gespräch, über ein kurzes Statement oder einen Film, bis hin zu einer fotografischen Serie. Die von Susan Bright und Nina Strand eingeladenen Mitwirkenden kommen aus den unterschiedlichsten Disziplinen und können nach Belieben auf das Thema und das Format antworten und reagieren. 

Vertrauen und Programmieren.

In diesem Gespräch zwischen Katrina Sluis und Jonas Lund geht es um das Projekt Operation Earnest Voice, das 2019 in der Photographers’ Gallery in London stattfand – eine waghalsige Intervention mit dem Ziel, den Brexit zu kippen. Davon ausgehend diskutieren sie über die Politik der Ambiguität, Automatisierung, digitales Marketing, verteilte Systeme, Blockchaintechnologie und Vertrauen und die Kommodifizierung dieser beiden Konzepte in verschiedenen Netzwerken und Geschäftsmodellen.

Katrina Sluis: In deiner Arbeit geht es nicht direkt um das fotografische Bild, aber sehr stark um Kontroll- und Verbreitungsinfrastrukturen – von Social Media-Plattformen bis zum Kunstmarkt –, die ebenfalls den kulturellen Wert der Fotografie beeinflussen. Vor zwei Jahren, 2019, haben wir beide an der Operation Earnest Voice: Brexit Division, mitgewirkt, einer Auftragsarbeit für The Photographers’ Gallery, die Teil der Ausstellungsreihe All I Know is What’s on the Internet war. Seit seiner Gründung 2012 hat das digitale Programm der Gallery sich darum bemüht, die medienspezifische Institution mit Onlinekultur und einer Politik der Zirkulation, des Rechnens und des kulturellen Werts zu ‚verschmutzen‛. Was ist deine Beziehung zu Fotografie und digitaler Kultur?

 

Jonas Lund: Als Teenager habe ich sehr viel Zeit in der Dunkelkammer verbracht, das war damals sehr wichtig für mich. Ich habe dann Fotografie an der Gerrit Rietveld Academy in Amsterdam studiert, dem Zentrum der niederländischen Fotografie. Das war eine ganz strikt medienspezifische Ausbildung. Bei allem, was ich während dieser Zeit gemacht habe, ging es um Fotografie, Fotografie, Fotografie: das Bild in Frage stellen, den Autor in Frage stellen, dieses ganze Zeug aus dem Studium. Nachdem ich drei Jahre lang das Medium zerpflückt hatte, war ich fertig damit. Fotografie schien ihre Relevanz verloren zu haben, und ich fühlte mich von dem Kamera-‚Apparat‛ eingeschränkt. Ungefähr zu der Zeit fing ich an zu programmieren und Websites zu machen, ich entdeckte net.art und ich dachte – oh Mann – ich hätte meine Energie in solche Online-Sachen stecken sollen und nicht in die Fotografie. Es hatte etwas sehr Befreiendes, auf diese Weise zu arbeiten – auf einem Gebiet mit einer kurzen, kaum dokumentierten Geschichte und einer Unmittelbarkeit in der Produktion, Verbreitung und Rezeption.

 

Katrina Sluis: Um diese Spannung zwischen Repräsentation und Verbreitung geht es in Daniel Rubinsteins Essay What is 21st Century Photography?, in dem er schreibt, dass „in einer postfordistischen Gesellschaft der Ort politischer Handlungsmacht und kultureller Relevanz sich vom Objekt – wie visuell faszinierend es auch sein mag – auf die Prozesse verschoben hat, mit denen das Objekt (re-)produziert und verbreitet wird.“ Beim Auftrag zu Operation Earnest Voice fand ich die Frage interessant, ob und wie eine medienspezifische Foto-Institution – durch die Linse rechnergestützter Propaganda – Bildsysteme gegenüber Bildern privilegieren kann.

 

Aber bevor wir weitermachen, lohnt es sich vielleicht, kurz Revue passieren zu lassen, was bei diesem Projekt genau passiert ist. In der Woche vor der ersten Parlamentsabstimmung über Theresa Mays Brexit-Deal 2019 wurde eine Etage der Photographers’ Gallery für vier Tage in eine voll funktionstüchtige Influencing Agency verwandelt. Es entstand eine Art Cambridge Analytica-Simulation – mit dieser ganzen Silicon Valley-Ausstattung, inklusive einer Therapie-Roboterkatze, einem Kühlschrank voller Red Bull und Soylent, einem Bereich für Steh-Meetings, motivierenden Büropostern und jeder Menge Bildschirmen, die Zahlen, KPIs und den aktuellen Websitetraffic anzeigten. Es gab eine Büroparty zur Eröffnung, Meetings und Lunchtime-Talks von openDemocracy. Die Mitarbeitenden waren Menschen, die sich auf ein Rekrutierungsvideo von dir gemeldet hatten, mit dem wir Hacker, PR-Leute und Social Media-Experten für die Arbeit in unserem Office gesucht hatten. Ich erinnere mich daran, wie bewegend ich es fand, die vielen Bewerbungen zu lesen.

 

Das ganze Projekt wurde live gestreamt. Die Besucher:innen der Gallery konnten sich frei bewegen und mit den Angestellten interagieren – ich hatte zahlreiche Gespräche mit Google- und Facebook-Angestellten, die vorbeigekommen waren, um sich das Ganze anzusehen. Am Abend von Tag Zwei gab es einen dramatischen Riss zwischen den Angestellten, die der Meinung waren, dass wir überzeugendere Bilder und ein besseres Narrativ entwickeln müssten, um einen Umschwung in der öffentlichen Meinung zu bewirken; und denjenigen, die an einem Fake-News-Generator arbeiteten, der Text- und Bildmaterial brauchte, um viele verschiedene alternative unsinnige Narrative auszuspucken. Damals dachte ich: das ist eine großartige Reflexion der gegenwärtigen Krise der Repräsentation.

Jonas Lund: Einer der Impulse bei Operation Earnest Voice war, die Banalität von Büropolitik sichtbar zu machen… es klingt so gut, so etwas zu sagen. Cambridge Analytica ist so sehr mystifiziert worden. Man darf nicht vergessen, dass das am Ende bloß ein paar Leute sind, die vor Computern sitzen und programmieren, um damit Geld zu verdienen. Und es ist ziemlich uneindeutig, was man mit diesen Daten dann machen kann.

 

Viel von der Kritik an der Abstimmung 2016 bezog sich darauf, dass die Linke sofort auf das Narrativ eingestiegen ist, dass Russland sich eingemischt hatte. Indem es sich als sehr einfache Erklärung dafür anboten, was schiefgegangen war, verursachte Cambridge Analytica eine Blockade, die jedes weitere Nachdenken darüber, was passiert war, verhinderte und es der Linken erlaubte, die Demografie derjenigen, die für ‚Leave‛ gestimmt hatten, zu ignorieren. Andererseits denke ich natürlich, es besteht kein Zweifel, dass Trump mit Russland kollaboriert hat und Cambridge Analytica eine Rolle gespielt hat. Aber bei der Vorbereitung von OEV war meine Frage: Wie kann man das sichtbarer und problematischer machen?

 

Dazu kam noch meine Idee, es könnte möglich sein, den Brexit mit genau denselben Mitteln rückgängig zu machen. Die neuesten Brexitentwicklungen zeigen, was das für ein Riesenfehler war, oder? Was für ein Level von Dummheit. Dummheit ist vielleicht nicht das richtige Wort – vielleicht Unübersichtlichkeit.

 

Katrina Sluis: An Tag Zwei oder Drei gab es einen dramatischen Wendepunkt, als du dir zunehmend sicher warst, dass das UK auf einen No-Deal-Brexit zusteuerte, der ‚schlecht fürs Geschäft‛ wäre. Du hast die Angestellten dann an der Entwicklung von ‚PaaS‛ – ‚Propaganda as a Service‛ (‚Propaganda als Dienstleistung‛) – arbeiten lassen, einer Reihe von Produkten, die für jede:n erschwinglich waren und dazu dienen sollten, rechnergestützte Propaganda zu ‚demokratisieren‛.

 

Ich erwähne das, weil sich durch die ganze OEV eine starke Ambiguität hindurchzog. Erstens ist da die Provokation, die das Projekt selbst darstellte – bevor OEV überhaupt gestartet war, versuchte die ‚Leave Means Leave‛-Kampagne schon zu erreichen, dass gegen die Gallery ermittelt würde. Wenn man aber in die Gallery kam, schien dieses LARP-artige Projekt vielleicht weniger bedrohlich als die Narrative, die in den sozialen Medien zirkulierten. Wie einer der Mitarbeitenden, Edwin Coomasuru, bemerkte: das ‚Kunstwerk‛ konnte als satirische linker Coup zum Kippen des Brexits verstanden werden, aber genauso gut auch als ein Porträt des Versagens der Linken, wie du nahelegst. Gleichzeitig warst du in der Rolle des CEO vollkommen ernst und sehr schwer zu lesen; im Laufe des Projekts begannen die Mitarbeitenden sich zu fragen, ob du eine:n von ihnen undercover im Büro platziert hattest, um einen Konflikt zu verursachen, wie im Reality-TV. Ich glaube, wir haben überhaupt nicht darüber gesprochen, wie das Ganze ausgehen sollte. Kolleg:innen aus anderen Museen und Galerien haben sich später überrascht darüber geäußert, dass die Gallery etwas potentiell so Riskantes in Auftrag gegeben hat.

Jonas Lund: Bei Operation Earnest Voice – wie auch sonst oft in meiner Arbeit – entwickle ich die Parameter eines Systems mit einigen Regeln und Restriktionen in Bezug auf das, was passieren kann und wie es passieren kann. So entsteht ein Uneindeutigkeitsfeld, weil das System performativ ist, seine eigene Verzerrung hat und seine eigenen Regeln. Aber was die tatsächliche Performance des Systems angeht, habe ich manchmal die Handlungsmacht darüber, manchmal nicht. In dieser Hinsicht haben wir beide naiverweise OEV unterschätzt: wir dachten, es kann nichts passieren und wir sind sicher, weil wir innerhalb einer Institution agieren, und es ist nicht wichtig, weil es Kunst ist… und man alles tun kann, was man will. Aber dann hatte es wirklich ein paar Folgen, was uns, denke ich, auch beide überrascht hat. Natürlich bin ich als Künstler froh darüber, zynischerweise, denn Kontroverse erzeugt Aufmerksamkeit. Aber im Rückblick finde ich es gar nicht so kontrovers. Ich weiß nicht.

In meiner Arbeit bemühe ich mich, die Komplexität aufrechtzuerhalten, denn sie ist sehr wichtig ist als Gegengewicht zur Simplifizierung von allem; wenn alles nur schwarz oder weiß ist, verpasst man leicht so viel von allem anderen. Ich bin während meines Masterstudiums oft für diese Uneindeutigkeit kritisiert worden, denn Uneindeutigkeit wird traditionellerweise als Schwäche betrachtet – so als ob man nicht weiß, was man will, oder sich nicht entscheiden kann. Uneindeutigkeit kann aber selbst eine Produktionsweise und eine valide Position sein. In der Psychoanalyse bedeutet Uneindeutigkeit einen starken Konflikt, es wird anerkannt, dass es extrem schwierig ist, eine uneindeutige Position aufrechtzuerhalten. Oft ist es viel einfacher, sich für eine Seite zu entscheiden. Wenn man sich aber für eine Position der Uneindeutigkeit entscheidet, müssen Zuschauende oder Teilnehmende ihre eigene Position finden. Ich will nicht predigen oder Regie führen – als ob es davon nicht schon genug gäbe. Ich arbeite also lieber in einer Art Spektrum, um die Frage aufzuwerfen: Wo steht man selbst? Wenn das nicht als vertrauenswürdig wahrgenommen wird, dann ist vielleicht genau das ein Teil des Problems, oder? Man muss sich an diesen Prozessen und Strukturen teilnehmen und selbst zu einer Lösung kommen.

Katrina Sluis: Ich erinnere mich daran, wie Vice News die Gallery besucht hat; sie brachten eine Brexit-Anhängerin mit, die in Westminister mitdemonstriert hatte, um auszuprobieren, ob unser Büro sie erfolgreich ‚überreden‛ konnte. Sie war pensionierte Naturwissenschaftlerin und leidenschaftliche EU-Gegnerin und ließ sich freundlicherweise auf unser Projekt ein. Natürlich geht diese Aktion von Vice am Wesentlichen vorbei und missversteht, wie ‚Überredung‛ funktioniert – wenn man dabei an das Social Media-Mikrotargeting denkt, das Cambridge Analytica bei Leuten gemacht hat, die in den letzten Wochen vor der Abstimmung vom Algorithmus als ‚überredbar‛ identifiziert worden waren. Hast du damals geglaubt, dass es möglich ist, Menschen zu überreden? Oder war die OEV symbolisch gemeint?

 

Jonas Lund: Im Prinzip denke ich wirklich, dass Kunst die Macht hat, jemanden dazu zu bringen, seine:ihre Meinung zu ändern oder die Welt anders zu sehen. Vielleicht ist es denkbar, dass Operation Earnest Voicewirklich Menschen erreicht hat, die nicht im Kunstbetrieb drinstecken, weil es in einer Fotografieinstitution stattfand und Fotografieinstitutionen generell offener und zugänglicher sind. Ich hoffe, dass viele Menschen, die darauf gestoßen sind, etwas gelernt oder verstanden haben und dass das ihr Denken verändert hat.

Das Problem ist, ich denke nicht, dass sich die Wirksamkeit von Kunst hochrechnen lässt. In Bezug auf Dinge, die im Silicon Valley passieren, stellt man sich immer die Frage, funktioniert dies oder das auch in großem Maßstab? Für so etwas wie Gegenwartskunst ist das aber eine ziemlich dumme Frage. Der ganze Kunstbetrieb agiert auf der Basis der Annahme, dass er absichtlich elitistisch ist, so funktioniert das halt. Um die Machtstrukturen der Kunst und eine Hierarchie der Produktion von subjektivem Wert aufrechtzuerhalten, muss man diese Anmaßung aufrechterhalten.

 

Und dann muss man sich fragen, welche Handlungsmacht hat Kunst, die Massen zu beeinflussen? Ich meine, in einem fortschrittlichen Sinne, z.B. um QANON entgegenzuwirken? Sie ist dafür ganz schlecht ausgerüstet, denn sie operiert nicht im selben Netzwerk, sie operiert nicht mit derselben Art von Agency. Die Handlungsmacht von Kunst innerhalb dieser Gegenwartsnetzwerke ist bedauerlicherweise sehr begrenzt, denke ich. Ich denke wirklich, praktisch niemand mehr hat Macht über diese Netzwerke. Was setzt man dieser Art von rechnergestützter Propaganda entgegen, die Polarisierung und Verschwörungstheorien hervorbringt? Ich denke, Marketing ist der Ursprung davon, das gescheiterte Geschäftsmodell des Internets, aber das ist vielleicht ein Gespräch, das wir ein andermal führen sollten.

Katrina Sluis: Einverstanden. Aber um noch etwas beim Thema Netzwerke, Geschäftsmodelle, Vertrauen und Verantwortlichkeit zu bleiben, ich möchte daran erinnern, dass du 2018 den Versuch unternommen hat, deine Kunstpraxis zu dezentralisieren. Du hast 100.000 ‚Anteile‛ an deiner Praxis ausgegeben, wobei ein Anteil einem JonasLundToken entspricht, einer Cryptowährung, die du ursprünglich auf der Ethereum-Blockchain aufgebaut hast. Anteilseigner:innen erwerben Rechte und können über deine Arbeit und die Zukunft des Jonas-Lund-Token abstimmen. Die ersten 10.000 Anteile wurden an ein Treuhänder:innen-Board ausgegeben, das sich aus Expert:innen aus dem Kunstbetrieb zusammensetzt; der Rest wurde in ein Spendenprogramm und auf eine Serie von JLT-Kunstwerken übertragen, die käuflich zu erwerben sind. Wie erfolgreich war dieser Versuch, Macht abzugeben?

 

Jonas Lund: Ich dachte, das müsste der logische letzte Schritt meiner Forschung zu automatisierter oder rationalisierter Entscheidungsfindung sein: meine eigene verteilte, autonome, selbstregulierende künstlerische Praxis. Etwas von den Entscheidungsfindungen in meiner künstlerischen Praxis ist immer sehr eng mit dem, was ich mache, verschränkt – es gibt diesen unterschwelligen Kampf darum, eine gewisse Autorität als Künstler zu behaupten. Wenn nun meine künstlerischen Entscheidungen von einem Board von mehr als einhundert Menschen gestützt werden, dann muss das irgendwie zu den besten Entscheidungen führen, oder?

 

Erst hinterher sind mir die Probleme an diesem Ansatz aufgefallen. Ich habe festgestellt, dass es nicht wirklich eine dezentralisierte Organisation ist, die ich da geschaffen habe; es ist eine zentralisierte, sehr arbeitsaufwändige Organisation. Sebastian Schmeig, ein Freund von mir, sagt, dass es so etwas wie eine Instrumentalisierung von Freundschaft ist, weil viele Freund:innen von mir in diesem Vorstand sind, von dem ich mich gratis beraten lasse, auch wenn es ein automatisch verteiltes Netzwerk ist.

Katrina Sluis: Angesichts dieser Bedenken, was hältst du vom aktuellen Blockchain-Hype? Im Bereich der Fotografie wurde die Blockchain in den letzten Jahren ja so dargestellt, als könne sie die Probleme der Authentizität von Bildern, der Kontrolle über Bilder lösen, und neuerdings auch als Mittel, um das Problem der zweifelhaften Ethik von Dokumentarfotograf:innen zu lösen.

 

Jonas Lund: Ich habe in den letzten Monaten an vielen Panels teilgenommen, in denen über die Blockchain und NFTs diskutiert wurde. Und ich habe von Anfang an die Position vertreten: es gibt überhaupt keine rechtliche Grundlage für NFTs. Technisch gesehen ist es eine ziemlich schlechte Methode zur Verifizierung von irgendetwas. Wenn die Leute sich die NFT-Verträge tatsächlich anschauen würden – man kauft kein Bild, man kauft ein schwaches Zertifikat, das nur durch soziale Konvention reguliert wird. Niemand kann daran gehindert werden, alles Mögliche mit diesem Bild zu machen. Rechtlich gesehen ist das echt überflüssig. Mir war nicht bewusst, dass das ein Problem für die Fotografie ist. Es ist kein Problem für Gursky oder Dijkstra oder irgend eine:n andere:n Gegenwartsfotograf:in. Sie verwenden ein sogenanntes Echtheitszertifikat, das ist alles. Mehr ist nicht nötig, um die Urheberschaft an einem Foto zu beanspruchen und seine Echtheit zu bestätigen, oder?

 

Katrina Sluis: Der Künstler Adam Broomberg hat kürzlich in den sozialen Medien Aufsehen erregt, als er für sein Projekt #FairPhoto mit Verisart zusammengearbeitet hat. Der CEO von Verisart ist ja Robert Norton, der zuvor Mitgründer und CEO von Saatchi Art und Sedition Art war. Wenn man sich Verisarts Marketingrhetorik anschaut – da verkünden sie, ihre Leitprinzipien seien „Vertrauen aufbauen“ und Dienstleistungen entwickeln, die „Vertrauen ermöglichen“, und „Vertrauen innerhalb des Teams aufbauen“. Sehen wir in diesen Projekten, wie Vertrauen zu einer Ware gemacht wird?

Jonas Lund: Ganz genau. Das Versprechen des Ethereum-Smart Contracts ist, dass man Vertrauen programmieren kann. Das ist aber – das hat einer der Gründer von Ethereum, Vitalik Buterin, oft beklagt – eine sehr schlechte Formulierung. Es ist kein Vertrag, es ist eher ein Programm. Es ist ein Skript, das mit ein paar Funktionen darüber entscheidet, was man tun darf und was nicht.

Die Blockchain Ethereum ist ein Protokoll ohne Vertrauen; das heißt, man wird von dem Protokoll reguliert, dem alle zustimmen. Wenn man sich eine Organisation anschauen möchte, die tatsächlich so funktioniert, dann ist das Ethereum selbst. Es ist eine interessante Organisation, mit einer Stiftung, die Vorschläge einreicht und evaluiert. Sie operiert nach dem Konsensprinzip: wenn weniger als 50 Prozent zustimmen, wird ein Vorschlag nicht angenommen. Es funktioniert also als völlig dezentralisierte, verteilte, autonome Organisation. Es ist das Original!

 

Andere Organisationen wie zum Beispiel Verisart sind nicht dezentralisiert. Sie programmieren sozusagen Vertrauen, aber – basierend auf ihren eigenen Smart Contracts – auf völlig zentralisierte Art und Weise. Also, man muss irgendwem vertrauen… und dann soll man ausgerechnet diesen Typen vertrauen? Die sind nicht dumm, aber ich gebe zu, ich habe es nie für eine solide Idee gehalten, ein Echtheitszertifikat auf der Blockchain zu verkaufen. Schon 2015, als ein Berliner Startup namens Ascribe anfing, solche Transaktionen zur Verfügung zu stellen, dachte ich, das ist neu und interessant, aber welches Problem wollt ihr damit eigentlich genau lösen? Aber jetzt, weil es so hip ist, kriegt man Geld für genau so etwas. Das ist so dämlich. Was ist verkehrt an Papier? Papier ist gerichtsfest. Ein Smart Contract vermutlich nicht.

Katrina Sluis: Würdest du sagen, wir sollten an das radikale Potential der Blockchain zur allmählichen Transformation von Kunst und Kultur-Produktion glauben?

 

Jonas Lund: Ich weiß es wirklich nicht. Aber wird sie die Hierarchien des Kunstbetriebs irgendwie unterminieren? Sicherlich nicht: es wird nur die Finanzialisierung von allem verstärken, was sehr deprimierend ist. Geld, das ist bloß Geld! Und traurigerweise ist das jetzt das dominante Narrativ, wenn es darum geht. Natürlich macht die gegenwärtige Popularität von NFTs Sinn, weil es schwierig ist, die Qualität von Kunst mittels rechnergestützter neoliberaler Vermessung zu quantifizieren. Die einzigen Zahlen, die man hat, sind Auktionsergebnisse und Preise.

 

Was man also bei NFTs beobachten kann, ist, dass es jetzt eine größere Transparenz in der Preisgestaltung gibt, was interessant ist, weil es die Macht dieser Bewertungskennzahlen noch vergrößert. Aber andererseits ist Marktperformance ein scheußlicher Maßstab für künstlerische Qualität. Ein wirklich armseliger Maßstab. Insbesondere Auktionsergebnisse – man darf nicht vergessen, dass Sammler:innen Kunstwerke versteigern, die sie nicht in ihrer Sammlung behalten wollen. Die Leute machen sich das nicht klar, wenn Sachen versteigert werden: Die Sammler:innen benutzen das vor allem als Anlage- und Spekulationsform, es geht ihnen dabei nicht um die Kunst.

Katrina Sluis: Wenn man das im Hinterkopf hat – wie sollten Museen, die mit öffentlichen Mitteln finanziert werden, an diese Technologien herangehen – sollten sie Facebook und solche Tools benutzen, auf reflektierte Weise und für progressive Zwecke?

 

Jonas Lund: Ich erinnere mich, dass wir beide uns im Dezember über algorithmische Kuration unterhalten haben und was sie verändern wird. Meine Vorhersage war, dass jede Institution einen eigenen Algorithmus haben wird, um auszurechnen, wie die anderen im Rennen um Aufmerksamkeit geschlagen werden können, denn es geht nur um Aufmerksamkeit. Natürlich ist es auch das Versagen der Förderorganisation, die es zur Bedingung für Förderung machen, dass Institutionen ihre Relevanz anhand von Zahlen beweisen. Dann ist natürlich der logische nächste Schritt, diese Zahlen so weit wie möglich zu optimieren und einen rechnergestützten Ansatz zu verfolgen, bei dem man die Algorithmen zu kopieren versucht, mit denen auf Instagram oder TikTok entschieden wird, wer der Beste ist. Natürlich spielt das auch eine Rolle bei der Auswahl von Schauspieler:innen für Filme oder bei der Auswahl von Künstler:innen für Ausstellungen. In diesem Sinne basiert alle subjektive Erzeugung von Wert auf Netzwerkübertragung: je größer die Übertragung ist, desto wertvoller sind die Sachen. Das trifft auch auf NFTs zu, denn die Performance deines NFT reflektiert bloß dein soziales Kapital. Und es ist egal, worum es sich dabei handelt: du investierst in etwas, das eigentlich gar nicht existiert. Und das ist es dann. Das ist meine Prognose, und die ist ziemlich trübe.

Wir werden alle zu Sklav:innen von diesem automatisierten Entscheidungsfindungs-Mist. Ich bin sicher, dass die Kultur sich in dieselbe Richtung entwickeln wird. Also, ich bin sicher, dass sie teilweise jetzt schon so funktioniert. Künstler:innen fangen an, ihre Produktion an diesen Signalen auszurichten. Der Algorithmus regiert, und die Künstler:innen optimieren, weil man auf diese Weise Zugang zur Institution bekommt.

 

 

Biografie

Jonas Lund ist ein schwedischer Künstler, dessen Arbeiten heutige vernetzte Systeme und technologische Innovationen kritisch reflektiert. Er schafft Gemälde, Skulpturen, Fotografie, Websites und Performances, die verschiedene Arten von Machtstrukturen kritisch hinterfragen. Zu seiner künstlerischen Praxis gehört auch die Herstellung von Systemen und das Aufstellen von Parametern, für die oft die Teilnahme der Zuschauer:innen notwendig ist. Daraus ergeben sich performative Kunstwerke, bei denen Aufgaben entsprechend einem Algorithmus oder einem Set von Regeln bearbeitet werden. In seinen Arbeiten untersucht Lund die aktuellen Probleme, die durch die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft hervorgebracht werden, zum Beispiel in Bezug auf Autorschaft, Partizipation und die Verteilung von Handlungsmacht. Gleichzeitig stellt er die Mechanismen des Kunstbetriebs in Frage: den Entstehungsprozess, die Macht von Autoritäten und die Praktiken des Kunstmarkts.

https://jonaslund.com

 

Katrina Sluis ist Kuratorin und Pädagogin und beschäftigt sich in ihrer Forschung mit der Politik und Ästhetik der algorithmischen Kultur, ihrer sozialen Verbreitung und ihrem kulturellen Wert. Sie ist zur Zeit Associate Professor und Head of Photography & Media Arts an der Australian National University und Vizedirektorin des Centre for the Study of the Networked Image an der London South Bank University, das sie 2015 mitgegründet hat. Von 2012 bis 2019 war sie Senior Digital Curator der Photographers’ Gallery, London, wo sie Ausschreibungen für künstlerische und öffentliche Projekte zu den Themen maschinelles Sehen, synthetische Bilderzeugung, Netzkultur und spekulative Fotografie sowie die Plattform Unthinking Photography entwickelt hat. Sie gehört zum Kern des Kollektivs hinter You Must Not Call It Photography If This Expression Hurts You und ist Mitherausgeberin des in Kürze erscheinenden Buchs The Networked Image in Post-Digital Culture.

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