2.12.2020

Digital Wondering 01

Susan Bright: Herzlich willkommen zu unserem ersten Digital Wondering. Wir haben dieses Format für das 9. f/stop – Festival für Fotografie 2021 entwickelt, als unmittelbare Reaktion auf die Zeit, in der wir leben. Als wir im Juni 2020 das Angebot bekamen, das gerade neu gestartete f/stop-Festival zu kuratieren, lebten wir aufgrund der Pandemie alle in einem Zustand höchsten Alarms, und es war kurz nach dem Tod von George Floyd im Mai. Aufgrund dieser Ereignisse wählten wir für unsere kuratorische Recherche das Thema Vertrauen. Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben alle Kultureinrichtungen gezwungen, neu zu denken, neue Ideen und Konzepte zu entwickeln und sich neu zu erfinden. Niemand ist gegen diese Veränderungen immun – und niemand sollte immun sein. Die offensichtlichste Veränderung, die wir alle wahrgenommen haben, ist die zunehmende Zahl von Onlineveranstaltungen, mit denen Kunsteinrichtungen ihre Programme dem Publikum zugänglich machen.

 

Nina Strand: Ja, wir reagieren auf ein aktuelles Thema – unsere neue Zukunft. Wir sind überzeugt, dass Vertrauen die Währung des 21. Jahrhunderts ist. Wir wissen nicht, wie die Kunstszene – oder die Fotografieszene – aussehen wird, wenn ein Impfstoff gefunden und der Lockdown beendet ist. Vertrauen ist von zentraler Bedeutung in der COVID-19-Krise, der Black-Lives-Matter-Revolution, der #metoo-Bewegung, bei Fake News, Parlamentswahlen, dem Umgang mit Technologien und natürlich in unserem persönlichen Leben. Wir wollen ein Programm entwickeln, das uns hilft, die Welt, unsere Rolle in ihr und unseren zukünftigen Weg besser zu verstehen. Die Aktualität, Brisanz und Relevanz des Themas Vertrauen sind offensichtlich. Vertrauen entsteht nicht mehr nur dann, wenn wir uns in die Augen sehen – wir müssen es auch im digitalen Raum entwickeln und aufrechterhalten. Trotz aller Fortschritte, die wir auf technologischem Gebiet schon gemacht haben, werden Herausforderungen, Risiken und Vertrauen in der menschlichen und technologischen Interaktion im weiteren Verlauf des Jahrhunderts immer wichtiger werden.

 

SB: Vertrauen ist die Basis, auf der alle unsere menschlichen Beziehungen beruhen, und wenn wir einander vertrauen, fällt es uns leicht, aufmerksam und empathisch miteinander umzugehen. Damit soziales Vertrauen entstehen kann, sind transparentes Handeln, die Kontinuität von Werten und ein Glaube an die Gemeinschaft notwendig. Wenn Versprechen uneingelöst bleiben, schleicht sich ein Gefühl des Betrogenseins ein und untergräbt den sozialen Zusammenhalt. Wir wollen all die verschiedenen Gesichtspunkte, unter denen man über Vertrauen nachdenken kann, untersuchen. Auf den ersten Blick scheint es ein simples Konzept zu sein, aber in Wirklichkeit ist das Thema unheimlich komplex.

 

NS: Es sind stürmische Zeiten, auch mit der Black-Lives-Matter-Bewegung mitten in der Pandemie. Ich hoffe, es wird sich daraus eine Revolution für People of Colour entwickelt, so wie #metoo eine für Frauen ist. Die Digital Wonderings sind eine Idee, die wir von den Visual Wanderings auf der Objektiv-Website entlehnt haben, wo Fotograf:innen und Künstler:innen aus verschiedenen Ländern eingeladen sind, mit Kunstwerken auf die aktuelle Situation zu reagieren: Was bedeutet der Lockdown für ihre Arbeit, was wollen sie unbedingt transportieren, was sind ihre Gedanken in Bezug auf die Zukunft? Jede:r Fotograf:in wählt eine:n Künstler:in für den nächsten Beitrag aus, und so entsteht im Idealfall ein visueller Dialog über viele verschiedene Länder hinweg und damit auch ein Überblick über die Folgen der Krise und ihre Nachwirkungen für Fotograf:innen auf der ganzen Welt.

SB: Ich freue mich schon darauf, die Online- und die Präsenz-Elemente zusammenzubringen. Wir wollen uns von der Idee lösen, dass ein Festival aus einer Reihe von Ausstellungen, einem Katalog und einem Symposium besteht; und wir wünschen uns wirklich, dass diese f/stop-Ausgabe sich von den früheren unterscheidet. Wir wollen das Globale und das Lokale in ein Gleichgewicht bringen. Ein Festival, das dick im Kalender steht, mit einem festen Ort und einer begrenzten Zeit, fühlt sich jetzt, da Reisen nur eingeschränkt möglich ist, nicht mehr richtig an. Hinzu kommt, dass jetzt in der Pandemie Klima- und Umweltschutz ganz neu diskutiert werden. Angesicht von all dem planen wir ein anspruchsvolles Programm, mit der Ausstellung und darüber hinaus einer Verlagsveranstaltung, einem Long-Table-Event (sowohl digital als auch in Präsenz), einer Serie von Zines und einem Filmprogramm. Das alles wird parallel und ergänzend zu den lokalen Elementen des Festivals stattfinden. Natürlich müssen wir flexibel sein. Wer weiß schon, wie die Situation in den Monaten vor der geplanten Eröffnung im Juni nächstes Jahr aussehen wird?

 

NS: Für f/stop werden wir uns die Situation vor Ort genauer anschauen und auch die Möglichkeiten, Bilder international auszustellen und zu verbreiten. Eine der mitwirkenden Künstler:innen beschäftigt sich mit genau diesen Fragen. Carmen Winant beschreibt sich selbst als Fotografin, die keine eigenen Bilder macht, und hat sich immer schon für eine Fotografie interessiert, die das Fotografische verweigert. In einer Ausgabe von Objektiv erklärt sie, dass sie anfing, mit Installation und Found Images zu arbeiten, weil sie der Verführungskraft der Fotografie misstraut. Sie begann, die Bilder von anderen zu verwenden, oftmals aus Büchern, um die Grenzen der Fotografie auszutesten. Wir möchten Arbeiten von Winant im Hauptausstellungsraum auf der Spinnerei zeigen; aber von ebenso großer Bedeutung für das Festival wird ihre Präsenz im Zentrum von Leipzig sein, wo sie den Leipziger:innen das Thema des Festivals nahebringen sollen.

SB: Wir wollen neue Prozesse ausprobieren und mit neuen Arten experimentieren, einen gemeinsamen Raum zu imaginieren und zu erschaffen. Um das zu erreichen, sehen wir unsere Zeit als Kuratorinnen des f/stop als ein „Work in Progress“ in mehrfacher Hinsicht. Wir verfolgen ein breit angelegtes Konzept, und ich hoffe, wir werden die Möglichkeiten und die Reichweite des Festivals erweitern können. Indem wir es als unabgeschlossenen Diskurs und Reflexionsprozess betrachten, öffnen wir das Festival und machen es zu einem Ort für Reaktionen auf die Herausforderungen der gegenwärtigen komplexen Situation.

 

NS: Im Rahmen dieses fortgesetzten Diskurses sollen im Zeitraum bis zum Präsenz-Festival auch mehrere Zines entstehen, die den üblichen Katalog ersetzen. Ich finde die Geschichte des Konzepts „Zine“ ganz großartig: leicht herzustellen und zu verbreiten, oft mit politischen Inhalten. Hinzu kommt noch eine neue Herleitung des Worts, die ich kürzlich gelesen habe: das Fanzine ist eine Zusammenziehung von fanatic magazine. Zines sehen nach Do-it-yourself aus und transportieren eine politische oder engagierte Botschaft. Ich denke, dass die Unmittelbarkeit von Zines „Backstage“-Gedanken Raum geben kann und einer Reflexion darüber, wie man in diesen Zeiten ein Festival organisiert. Wir wollen die teilnehmenden Künstler:innen zu ihrer Arbeit interviewen und ihre Gedanken zum Thema und der übergreifenden Idee des Festivals präsentieren.

 

SB: Wir möchten den kuratorischen Prozess so transparent wie möglich gestalten. Auf diese Weise werden wir vielleicht in aller Öffentlichkeit Fehler machen, aber auch aus ihnen lernen und zeigen, dass der eigentlich kreative Teil der kuratorischen Arbeit der künstlerischen Arbeit gar nicht so unähnlich ist. Es wird uns auch kurzfristige Reaktionen ermöglichen, falls größere Veränderungen in der Welt Anpassungen nötig machen sollten. Die Zines sind dafür von großer Bedeutung. Kuration stellt man sich ja oft als eher statisches Unternehmen vor; diese Vorstellung wollen wir mit diesen kleineren, beweglicheren Elementen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen ereignen, in Frage stellen.

 

NS: Wie du schon gesagt hast, ist eine wichtige Frage: Wer wird im nächsten Juni das Festival sehen können? Wie können wir einen Diskurs anstoßen, der sowohl die Menschen in Leipzig einbezieht als auch die internationale Fotografieszene? Diese Überlegungen hier, die Digital Wonderings, sind vielleicht ein guter erster Schritt hin zu einem umfassenderen gegenseitigen Austausch, der jetzt beginnt und nach den 10 Tagen des 9. f/stop im Juni nächstes Jahr vielleicht noch nicht zu Ende ist.

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